Montag, 9. Januar 2012

25. Ausnahmezustand

Wenn der Chef in die Bredouille gerät, herrscht auch für die Ghostwriter Ausnahmezustand. Sie kommen spätestens dann ins Spiel, wenn das Krisenmanagement schlecht gelaufen ist und nun der so genannte Befreiungsschlag geführt werden soll: Ein einziger Auftritt, die richtigen Worte, und schon erscheinen die Vorwürfe kleinlich oder gar falsch und die Kritiker unredlich oder gar böswillig!

Eine solche Erklärung zu entwerfen oder, noch verwegener, Aussagen für ein Interview zu entwickeln und für alles, was kommen könnte, treffende Sätze zu formulieren, gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Schreibhelfers. Denn die Umstände sind extrem heikel:
Das gegnerische Lager ist, wenn der Stein erst einmal richtig rollt, so kritisch wie sonst nie. Es gibt kein Guthaben und kein Wohlwollen; jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, etwas falsch zu verstehen. Mit anderen Worten: Man hat es mit gnadenlosen Gegnern zu tun.

Es kommt also auf jedes Jota an. Deswegen redet oft ein Anwalt mit. Er ist, wie der Ghostwriter, Experte des passenden Wortes, aber jeder hat eine andere Brille auf: Der eine zielt auf Eindruck, der andere auf Unangreifbarkeit; dieser hat die Öffentlichkeit im Auge, jener die juristische Dimension. Beides ist nicht immer leicht in Einklang zu bringen.

Und dann ist da der Chef selbst. Wahrscheinlich ist er stark unter Druck, denn es geht um sein Amt, um seine Ehre, um die Familie, um die Zukunft. Wahrscheinlich fühlt er sich hilflos, denn er ist es gewohnt zu agieren, und nun bestimmen andere das Geschehen. Sonst führt er Regie, und nun weiß er nicht, was als Nächstes kommt.

Wahrscheinlich hat er selbst auch schon mal einem Gegner in prekärer Lage Salz in eine Wunde gerieben; nun, da ihm Gleiches widerfährt, fühlt er sich ungerecht behandelt. Damals war ihm klar: Der Anlass kann unbedeutend sein, aber gefährlich ist die Prozedur, die man Krisenmanagement nennt: Das ist das eigentliche Glatteis, dort droht man auszurutschen. Heute, da er selbst Gegenstand dieses Spiels ist, verdrängt er diese Regeln und denkt: Warum kapieren die denn nicht, dass ich nichts Unrechtes getan habe? Wahrscheinlich sieht er viel bösen Willen, und das schärft nicht gerade den Sinn für Analyse und Strategie.

Unter diesen schwierigen Bedingungen muss die vielleicht alles entscheidende Erklärung entworfen werden. Was ist das Ziel? Und welche Stoßrichtung, welche Struktur, welche Argumente, welche Tonlage führen dahin? Auch wenn politische Affären zumeist den gleichen dynamischen Gesetzen folgen, lässt sich nur im Einzelfall bestimmen, was Erfolg verspricht. Aber es gibt ein paar Regeln, die zu verletzen einen Misserfolg in der Krisen-Abwehr nahezu garantiert.

Erstens: Wahrheit

Immer die Wahrheit und nichts als die Wahrheit! Alles was man erklärt, muss auch ein paar Recherchen später noch stimmen. Selbst wenn es in der Sache egal wäre, ob ein Kreditvertrag zwei Wochen früher oder später in Kraft trat - was dazu gesagt wird, muss absolut stimmen. Die kleinste Unwahrheit kann zur größten Gefahr werden.

Zweitens: Wahrheit plus

Immer großzügig sein: Nicht wie ein Winkeladvokat vorgehen nach dem Motto: Wenn scheibchenweise gefragt wird, antworte ich auch scheibchenweise. Jeder Nachtrag, der erzwungen wird, kostet Glaubwürdigkeit. Was - und sei es nur scheinbar - aus freien Stücken dargelegt wird, stärkt die Glaubwürdigkeit. Zusammenhänge vollständig darlegen, auch wenn es unangenehm ist. Wenn es heißt: "Er gibt immer nur zu, was ihm schon nachgewiesen ist!", dann ist es schon fünf nach zwölf.

Drittens: Klarheit

Keine Haarspalterei! Nicht schwiemeln! Natürlich darf jeder Freunde haben und sie auch besuchen. Aber eine Ferienvilla im fernen Ausland ist nun einmal etwas anderes als das Gästezimmer, in dem man nach dem gemeinsamen Kochen, Essen und Trinken müde niedersinkt.

Viertens: Konsistenz

Absolute Stimmigkeit in der Argumentation. Alle Fakten, auch im Detail, müssen zusammenpassen, sonst werden neue Zweifel, Fragen, negative Urteile provoziert.Die vorgetragenen Fakten müssen zu den subjektiven Äußerungen passen, und die müssen untereinander übereinstimmen. Es ist wirkt widersprüchlich, wenn man erst die Belastungen des Amtes beklagt und dann den früheren US-Präsidenten Harry S. Truman (sehr frei) zitiert: "Wem es in der Küche zu heiß ist, der soll nicht Koch werden wollen."

Fünftens: Zielstrebigkeit

Nicht das Ziel aus den Augen verlieren. Wenn Sachkompetenz demonstriert werden soll, dann muss man besonders sachkompetent auftreten. Wenn Sympathie zurückgewonnen werden soll, dann muss man versuchen, besonders sympathisch zu wirken. Wenn Vertrauen zurück gewonnen werden soll, dann muss man besonders vertrauenswürdig auftreten. Erst Fehler eingeräumen und dann ein dickes "Aber" hinterher schicken, das konterkariert das Ziel. Deine Rede sei ja, ja, nein, nein: Ja, diesen Fehler habe ich gemacht! Nein, dieser Vorwurf trifft nicht zu! Entschuldigungen - richtiger: Bitten um Entschuldigung - müssen überzeugend vorgetragen werden; umso härter kann die Gegenwehr in anderen Punkten ausfallen.

Sechstens: Keine Larmoyanz

Nicht jammern! Niemals den Amtsstress als Erklärung dafür anführen, warum man Fehler gemacht hat, nach dem Motto: Fünf Länder in vier Tagen, zehn Termine am Tag, und dann auch noch das! Wer als Protagonist einer politischen Affäre Mitleid sucht, soll sich an die Familie oder an Freunde wenden, aber normalerweise nicht an die Öffentlichkeit. Wie bei der Fuchsjagd nimmt die Meute die Witterung nur noch umso besser auf, und Erwin Mustermann sagt sich: Der soll sich mal nicht so haben! Ich habe es auch nicht leicht! Hat man ihm das Amt aufgezwungen?

Was das Allerwichtigste bei der Affären-Bewältigung ist, und zwar vom aller ersten Moment an, ist in George Clooneys hervorragenden Film "The Ides of March" zu sehen. Im Wahlkampfflugzeug fragt der Präsidentschaftsbewerber Mike Morris seinen Pressechef Stephen, wie es um die Kampagne stehe. ,,Toll", antwortet Stephen, und Morris erwidert: Für diese Antwort bezahle ich Paul (Leiter der Kampagne). Dich bezahle ich für die Wahrheit."